Zwei kurze Rezensionen. Ein Tipp aus dem Internet und ein Hype-Buch. Weil man ja auch mal schwach sein darf.
Zugvögel von Charlotte McConaghy ist ein überwältigender Roman, der mich von der ersten Seite an nicht mehr losgelassen hat. In einer nahen Zukunft, in der die Welt ihre Artenvielfalt verliert, begleitet man Franny auf der Jagd nach dem letzten Zug der Küstenseeschwalben. Was wie eine karge Reisegeschichte beginnt, entfaltet sich zu einem fein komponierten Mosaik aus Naturbeschreibung, Abenteuer, Trauer und leiser Hoffnung. McConaghy schreibt dabei mit einer lyrischen Wucht, die salzige Luft, sprödes Eis und das Schlagen von Flügeln unmittelbar spürbar macht.
Besonders beeindruckt hat mich Franny als widersprüchliche, zutiefst menschliche Heldin. Sie ist hartnäckig und verletzlich, getrieben von Schuld und Sehnsucht, und gerade dieser Riss macht sie unvergesslich. Die Rückblenden fügen sich elegant in den Handlungsstrom ein, offenbaren nach und nach die Gründe für ihr rastloses Herz und verdichten die Spannung ohne effekthascherische Tricks. Auch die raue, vielschichtige Schiffscrew wächst einem ans Herz; jede Figur trägt eine eigene Last, sodass das Boot zu einer schwankenden Gemeinschaft der Gestrandeten wird.
Thematisch greift der Roman weit aus: Klimakrise, Zugehörigkeit, Freiheit, Liebe – und die Frage, was wir zu opfern bereit sind, um zu bewahren, was wir lieben. Dabei moralisierte der Text für mich nie; er vertraut auf die Kraft seiner Bilder. Manche Sätze wollte ich laut lesen, andere unterstreichen, viele habe ich mit mir getragen, lange nachdem ich das Buch geschlossen hatte.
Für Leserinnen und Leser, die sich nach einem intensiven, atmosphärisch dichten Lektüreerlebnis sehnen, ist Zugvögel ein Geschenk. Ein Roman, der weh tut und wärmt, der Wellen schlägt und still wird wie Schnee. Fünf Sterne, ohne Zögern – und eine unbedingte Leseempfehlung.
Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ ist ein leises, zugleich eindringliches Coming-of-Age-Buch, das mit wenigen Strichen eine ganze Welt sichtbar macht.
Kleinstadt, Sommerhitze, das Freibad als Zufluchtsort. Die Protagonistin Tilda zieht unbeirrt ihre 22 Bahnen – ein Ritual gegen das Chaos daheim, wo sie Verantwortung für ihre kleine Schwester trägt und mit der Alkoholsucht der Mutter ringt. Dieses Setting ist so schlicht wie wirkungsvoll: Jede Bahn wird zum Zählen, zum Atmen, zum Versuch, das eigene Leben zu ordnen.
Wahl überzeugt vor allem mit einer klaren, unprätentiösen Sprache, die dennoch poetische Bilder zulässt. Dialoge sitzen, Pausen sagen oft mehr als Worte. Besonders stark sind die Schilderungen der Schwesternbeziehung: zart, loyal, manchmal messerscharf. Auch die vorsichtige Annäherung an eine erste Liebe ist stimmig – nie kitschig, sondern voller Unsicherheit und Sehnsucht.
Thematisch lotet der Roman die Kluft zwischen Bleiben und Gehen aus, zwischen Pflichtgefühl und Selbstschutz. Wahl zeigt, wie eng Fürsorge und Selbstaufgabe beieinander liegen, ohne ins Moralische zu kippen. Kleine Schatten gibt es dennoch: Manche Motive wiederholen sich, einzelne Wendungen sind absehbar, und an wenigen Stellen wirkt das Erzählen zu glatt, als ob Ecken und Kanten abgeschliffen wurden.
„22 Bahnen“ ein berührendes, bemerkenswert präzises Debüt, das lange nachhallt – nicht wegen großer dramaturgischer Gesten, sondern wegen seiner stillen Konsequenz. Ein Buch für alle, die Literatur mögen, die nah an ihren Figuren bleibt und aus Alltagsmomenten Bedeutung schöpft.
Irgendwie wirkt das Buch trotzdem losgelöst von seiner Umgebung. Einige Zusammenhänge finde ich nicht schlüssig. Einiges bleibt unerklärt. Es ist kein schlechtes Buch, aber irgendwas fehlt mir. Kann man trotzdem machen.