Verfügbarkeit und Jung

Ich trage mich mit dem Gedanken in Zukunft auf WhatsApp aus meiner digitalen Welt zu verbannen. Objektiv erst mal keine besonders große Entscheidung. Ich habe mich in den letzten Jahren von vielen weit verbreiteten Diensten getrennt, FOMO gab es nur ein paar Tage, Entspannung und Vergessen des Bedürfnisses setzten erstaunlich schnell ein. Kommuniziert man jedoch die Absicht vorsichtig nach Außen, gibt es erstaunlich viel Gegenwehr. Unverständnis, fast schon Entrüstung schlägt mir entgegen. Warum ist denn Nicht-Erreichbarkeit heutzutage anscheinend ein unausgesprochenes Tabu? Und warum könnte es eine gute Entscheidung sein auf Kommunikationskanäle bewusst zu verzichten?

In unserer vernetzten Welt ist die Erwartung ständiger Erreichbarkeit allgegenwärtig geworden. Smartphones surren, E-Mails trudeln ein und soziale Medien fordern unsere Aufmerksamkeit rund um die Uhr. Doch was geschieht mit unserer inneren Dynamik, wenn wir uns dieser permanenten Verfügbarkeit unterwerfen? Ein Blick auf die tiefenpsychologischen Einsichten Carl Gustav Jungs kann uns helfen, die komplexen Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit und unsere Beziehungen zu verstehen.

Ein zentraler Punkt ist die Veränderung der Dynamik zwischen uns und unserer Umwelt, wenn wir aufhören, konstant emotional, physisch und psychisch erreichbar zu sein. Die ständige Bereitschaft zur Interaktion kann uns vorhersehbar machen. Wer immer sofort reagiert und seine Bedürfnisse zurückstellt, läuft Gefahr, von anderen als bloßes Werkzeug instrumentalisiert zu werden. Diese Beobachtung deckt sich mit Jungs Konzept der Individuation, dem lebenslangen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Selbst und der Abgrenzung von äußeren Erwartungen.

Ein besonders aufschlussreicher Gedanke Jungs findet sich in der Aussage: „Alles, was uns an anderen irritiert, kann uns zu einem besseren Verständnis unserer selbst führen.“ Übertragen auf das Thema Verfügbarkeit bedeutet dies, dass unsere Irritation über die ständigen Anforderungen anderer oder unser eigenes Gefühl der Überforderung ein wichtiger Hinweis auf ungesunde Muster sein kann. Vielleicht spiegeln diese Irritationen einen unbewussten Wunsch nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung wider.

Eng verbunden mit der permanenten Erreichbarkeit ist der Aspekt der Psychohygiene. Jeder Gedanke, jede Emotion und jede Handlung verbraucht einen Teil unserer psychischen Energie. Wer sich unentwegt äußeren Reizen und Anforderungen aussetzt, riskiert eine kontinuierliche Entladung dieser Energie, was zu Erschöpfung führen kann. Manipulative Menschen erkennen diese Verletzlichkeit emotional erschöpfter Individuen und nutzen sie möglicherweise gezielt aus.

Hier wird Jungs Konzept der Projektion besonders relevant. Opportunistische Menschen können unbewusste emotionale Reaktionen in anderen triggern, indem sie auf deren „programmierte“ Muster abzielen. Diese Projektionen sind unbewusste Übertragungen eigener, oft unliebsamer Persönlichkeitsanteile auf andere. Werden wir ständig durch äußere Reize in emotionale Reaktionen getrieben, verlieren wir die Kontrolle über unsere innere Welt und werden anfälliger für Manipulation.

Es ist entscheidend, selektiv zu sein, wem wir unsere Energie widmen. Nicht jede Anfrage und jede Interaktion erfordert unsere sofortige und uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Wir sollten uns nicht verpflichtet fühlen, unsere Abwesenheit oder unsere Grenzen ständig zu rechtfertigen oder zu erklären. Diese Fähigkeit zur Abgrenzung ist ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden Psychohygiene.

Einsamkeit also, die aus dieser bewussten Abgrenzung entstehen kann, mag zunächst beunruhigend erscheinen. Doch auf lange Sicht kann sie zu echter innerer Freiheit führen. Sie ermöglicht einen Neuanfang, in dem wir uns nicht länger mit weniger zufriedengeben, als wir verdienen – sei es in unseren Beziehungen, unserer Arbeit oder unserem Umgang mit uns selbst. Indem wir die ständige Verfügbarkeit hinterfragen und unsere psychische Energie schützen, treten wir ein in einen Prozess der Individuation, der uns zu einem authentischeren und selbstbestimmten Leben führt, ganz im Sinne der tiefenpsychologischen Erkenntnisse Carl Gustav Jungs.

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