Bleibt die Wahrheit ein Wert?

Ist es noch sinnvoll, Rechtspopulisten der Unwahrheit zu überführen?

Wenn ich die Debatten der letzten Jahre Revue passieren lasse, ertappe ich mich bei einer ambivalenten Regung. Ein Teil von mir will jede falsche Behauptung sofort geraderücken: Fakten prüfen, Quellen verlinken, Widersprüche markieren. Der andere Teil ahnt, dass ich damit vielleicht genau die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie bediene, die den lautesten Stimmen Reichweite verschafft. Zwischen diesen Polen – dem Bedürfnis nach Wahrheit und der Gefahr unbeabsichtigter Verstärkung – bewegt sich die Frage: Ist es noch sinnvoll, Rechtspopulisten der Unwahrheit zu überführen?

Wahrheit, Macht und Anerkennung: philosophische Linien
– Arendt hat darauf hingewiesen, dass politische Lügen nicht einfach Irrtümer sind, sondern Versuche, eine alternative Wirklichkeit zu setzen. Wahrheit ist im Politischen verletzlich, weil sie keine Machtmittel besitzt außer ihrer Beharrlichkeit.
– Habermas’ Diskursethik erinnert daran, dass Verständigung auf Gründen basiert, nicht auf Lautstärke. Der öffentliche Raum lebt von normativen Erwartungen: Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Aufrichtigkeit.
– Harry G. Frankfurt unterschied die Lüge von „Bullshit“: Während die Lüge die Wahrheit kennt und verdeckt, ist Bullshit gleichgültig gegenüber der Wahrheit. Viele rechtspopulistische Kommunikationsstrategien wirken nicht wie die penible Konstruktion einer Lüge, sondern wie ein Indifferenzgewitter – Hauptsache Resonanz.

Diese Perspektiven zeigen: Unwahrheit zu markieren ist aus normativer Sicht geboten. Doch ob es praktisch wirkt, entscheidet sich psychologisch und medial.

Aufmerksamkeitsökonomie und Thymokratie
In einer thymokratischen Kultur zählt Anerkennung mehr als Argument. Wer Status aus Erregung und Empörung bezieht, wird von Korrekturen nicht unbedingt geschwächt. Im Gegenteil: Widerspruch kann als Beleg eigener Bedeutung gerahmt werden. Die Mechanik der Plattformen – „Neurohacking“ der thymotischen Trias aus Dopamin, Adrenalin, Testosteron – belohnt das, was affiziert. Richtigstellungen, die Empörung paraphrasieren („X behauptete, Y sei…“), reproduzieren Frames und triggern erneut dieselben Reaktionsschleifen. Das kann die illusorische Wahrheitseffekts verstärken: Wiederholung macht Behauptungen plausibler, auch wenn sie dementiert werden.

Kognitive Dissonanz und Identitätsschutz
Empirische Forschung in der politischen Psychologie zeigt robuste Effekte:
– Motiviertes Schließen: Informationen werden so verarbeitet, dass sie Identität und Zugehörigkeit schützen.
– Backfire-Effekt: Korrekturen können Überzeugungen in Teilgruppen kurzfristig verhärten – vor allem, wenn sie das Selbstbild bedrohen oder stigmatisieren.
– Identitätsprotektive Kognition: Menschen bewerten Evidenz danach, was sie für ihr Weltbild und ihre Gruppe bedeutet.

Rechtspopulistische Narrative knüpfen zudem an ein libertäres Freiheitsverständnis an: „Niemand schreibt mir vor, was wahr ist.“ Hier wird „Freiheit“ als negative Freiheit (Freiheit von Einmischung) gegen epistemische Standards gewendet. Die Folge: Faktenchecks wirken dann wie paternalistische Eingriffe – ein idealer Feind, an dem man sich thymotisch aufrichten kann.

Wann Korrekturen wirken
Trotzdem gibt es wirksame Ansätze. Aus der Debunking- und Inokulationsforschung lassen sich einige Leitlinien destillieren:

1) Zielgruppe klären
– Gegenüber dem hardcore-Überzeugten ist die Erfolgswahrscheinlichkeit gering. Sinnvoller sind Korrekturen für die „Zuschauerbank“: die Unentschlossenen und die schweigende Mitte. Öffentlich sichtbare, sachliche Gegenrede setzt Normen (“So sprechen wir über Evidenz”) und bietet leise Orientierungen.

2) Prebunking statt nur Debunking
– Vorbeugende „Impfungen“ gegen Falschbehauptungen vermitteln Mechanismen der Irreführung (falsche Dichotomien, Scheinexperten, Cherry-Picking). Wer das Muster erkennt, ist später weniger anfällig – und braucht keine laute Konfrontation.

3) Alternative Erzählung liefern
– Reine Negation („Das stimmt nicht“) lässt eine Leerstelle. Besser ist ein kurzer, plausibler Erklärrahmen: Was ist richtig? Warum wirkt das Falsche verführerisch? Welche Daten belegen es? In der Praxis helfen „Truth Sandwiches“: korrekt – falsch kurz benennen – korrekt vertiefen.

4) Tonalität: respektvoll, nicht beschämend
– Beschämung triggert Identitätsverteidigung. Ein empathischer Ton signalisiert: Ich will verstehen, nicht demütigen. Das öffnet kognitive Türen. Hier hilft mir eine Erfahrung aus der Musikpsychologie: Menschen regulieren Emotionen höchst unterschiedlich. So wie manche traurige Musik zur Verarbeitung nutzen, brauchen manche eine „wärmere“ Ansprache, bevor sie sich kognitiv auf Neues einlassen.

5) Framing minimieren, Fakten maximieren
– Schlagworte des Gegenübers nicht wiederholen, sondern eigene, präzise Begriffe setzen. Kurze Sätze, klare Zahlen, visuelle Hilfen. Keine überbordende Empörung – sie füttert das Aufmerksamkeitsregime.

6) Kontext und Institutionen stärken
– Einzelkorrekturen sind vergänglich; robuste Institutionen (qualitätsgesicherter Journalismus, transparente Behördenkommunikation, Wissenschaftskommunikation) bieten Dauerinfrastruktur für Wahrheit. Öffentlichkeit ist mehr als virale Threads.

Demokratiepolitischer Grund: Lüge markieren, ohne sie zu amplifizieren
Ich glaube: Es bleibt sinnvoll – ja notwendig –, Unwahrheit zu adressieren. Aber sinnlos ist es, dies im Modus der thymokratischen Eskalation zu tun. Das Ziel verschiebt sich: weg vom „Überführen“ des Gegners als Narzissmusfutter, hin zur Fürsorge für die Zuhörerinnen und Zuhörer. Wir schützen nicht nur Tatsachen, sondern die Möglichkeit, dass Menschen ihre Ansichten ohne Gesichtsverlust revidieren können. Das ist, in Habermas’ Sinn, eine soziale Praxis: Wir halten Räume offen, in denen Gründe zählen.

Eine persönliche Notiz
Ich habe mir angewöhnt, bei offensichtlichen Falschaussagen zuerst tief durchzuatmen. Dann frage ich: Wer sitzt auf der Bank und hört zu? Was braucht diese Person, um nicht in den Sog der simplen Erzählung zu geraten? Manchmal schreibe ich dann einen nüchternen Absatz mit drei Sätzen, ohne Namen zu nennen, und verlinke auf Primärquellen. Manchmal schweige ich öffentlich und spreche im privaten Rahmen – weil der Kanal darüber entscheidet, ob ich aufkläre oder amplifiziere. Und manchmal setze ich mir tatsächlich Kopfhörer auf und höre langsame, melancholische Musik. Das verlangsamt mein eigenes Thymos und erinnert mich daran, dass Vernunft und Empathie keine Gegensätze sind, sondern Verbündete.

Ja: Unwahrheit zu überführen bleibt sinnvoll – jedoch adressatenzentriert, präventiv, respektvoll und mit institutioneller Rückendeckung. Wer die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie versteht, muss nicht schweigen; er spricht anders. Nicht jeder Widerspruch verdient eine Bühne, aber jede Bürgerin und jeder Bürger verdient die Chance, zwischen Lärm und Wahrheit unterscheiden zu können. Genau darin liegt heute die politische Tugend: Wahrhaftigkeit als leise Ausdauer.

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