Neugierde


Neugierde als Lebenselixier: Warum das Staunen uns am Leben erhält

Ich habe mir in letzter Zeit viele schwere Gedanken gemacht. Dieses Jahr hat mir eine Krankheit beschert, die es mir unmöglich gemacht hat, an existentiellen Fragen vorbei zu schauen. Den Luxus diese Fragen zu ignorieren, wurde mir genommen, einfach so, ohne Vorwarnung. Unter anderem wurde mir stark ans Herz gelegt eine Patientenverfügung zu erlassen. Diese beinhaltet aus den ersichtlichsten Gründen die existentiellsten Fragen die man sich vorstellen kann. Gleichzeitig muss ich mich auch fragen: Welchen Treibstoff braucht es Abseits davon? Ich möchte auch wissen, wer Antagonist zu Fragen der Sinnhaftigkeit von „Wann ist das Leben noch lebenswert?“ ist. Da fiel mir in meinem Fall die Neugierde ein.

Es gibt Momente, in denen das Leben sich anfühlt, als würde es stillstehen. Routinen erstarren zu Gewohnheiten, Fragen zu Gewissheiten, und plötzlich scheint alles, was kommt, nur eine Wiederholung dessen, was war. Doch dann – ein Funke: eine unerwartete Begegnung, eine seltsame Frage, ein Buch, das uns aus der Bahn wirft. Plötzlich ist die Welt wieder weit, unberechenbar, lebendig. Dieser Funke, das ist die Neugierde. Und kaum jemand hat sie so leidenschaftlich verteidigt wie Roger Willemsen, der in ihr nicht nur eine Tugend, sondern eine Überlebensstrategie des Geistes sah.

Bezüglich der Neugierde entwickelt Roger Willemsen in einem Interview die Idee, dass Neugierde ein zentrales, nie nachlassendes Interesse an Menschen und der Welt ist, welches ihn antreibt und seine Arbeit als Reisender, Autor und Interviewer prägt:

  • Entzifferung von Menschen: Neugierde wird als ein tiefes, niemals nachlassendes Interesse an Menschen beschrieben, das auf die „Entzifferung von Menschen selbst“ abzielt – wie sie dasitzen, in welchem Tempo sie Fragen beantworten oder schauen. Es geht darum, die Persönlichkeit zu entdecken und wirklich „zu treffen“.
  • Grundlage für die Arbeit: Die „ursprüngliche Neugier“, die nicht künstlich erzeugt ist, bildet das Fundament für seine Interviews und seine intellektuelle Auseinandersetzung. Sie ermöglicht es ihm, Brücken zu schlagen zwischen ambitioniertem Bildungsanspruch und den Errungenschaften der Hochkultur im ganz normalen Leben.
  • Abwesenheit von Dogma: Im Zusammenhang mit seiner Rolle als Interviewer wird seine Haltung als vorurteilslos, neugierig und gelassen beschrieben. Seine Neugier steht im Kontrast zu allem Dogmatischen und ermöglicht ihm, mit Vielen über Vieles zu reden, ohne banal zu werden.
  • Rastlosigkeit und Vitalität: Neugierde wird oft in Verbindung mit seiner Rastlosigkeit und der Hoffnung genannt, dass dieses Interesse niemals abnimmt, da es seine Vitalität ausmacht.

Roger Willemsens Konzept der Neugierde ist somit die eines tiefen, uneitlen und lebensbejahenden Antriebs, der auf aufrichtiges Interesse am Gegenüber und der Welt gerichtet ist und sich in seinen vielseitigen Tätigkeiten manifestiert.

Neugierde als Widerstand gegen die Erstarrung

Willemsen, der sich zeitlebens als „Amateur“ im besten Sinne verstand – als jemand, der liebt, was er tut –, sah in der Neugierde eine radikale Haltung der Offenheit. In einer Welt, die uns ständig einredet, wir müssten alles wissen, alles können, alles sofort verstehen, ist Neugierde der stille Protest dagegen. Sie sagt: „Ich weiß nicht – und das ist gut so.“ Sie ist keine Schwäche, sondern der Mut, sich dem Unbekannten auszusetzen.

In seinem Buch „Das Hohe Haus“ beschreibt Willemsen, wie Politik oft zur Bürokratie des Desinteresses wird – wie aus lebendigen Debatten leere Rituale entstehen. Doch Neugierde, so seine Überzeugung, ist der Gegenentwurf zu dieser Müdigkeit. Sie fragt nach, wenn andere schweigen. Sie zweifelt, wenn andere nicken. Sie sucht die Risse in den scheinbar glatten Oberflächen – denn genau dort, in den Brüchen, liegt oft die Wahrheit.

Warum ein Leben ohne Neugierde ein halbes Leben ist

Stellen wir uns vor, wir wüssten bereits alles. Keine Überraschungen mehr, keine Irrtümer, keine plötzlichen Erkenntnisse, die uns den Atem rauben. Klingt das nach Freiheit – oder nach einem Gefängnis? Willemsen würde sagen: Letzteres. Denn Neugierde ist nicht nur der Antrieb für Wissenschaft oder Kunst, sondern für das Leben selbst.

  • Sie ist der Grund, warum wir als Kinder die Welt erkunden – und warum wir als Erwachsene manchmal das Gefühl haben, sie wieder zu verlieren.
  • Sie ist der Grund, warum wir reisen, warum wir lieben, warum wir streiten: weil wir ahnen, dass hinter dem Vertrauten noch etwas anderes liegt.
  • Sie ist der Grund, warum wir Musik hören, die uns erschüttert, oder Bücher lesen, die uns fremd sind. Weil wir spüren: Verstehen ist ein Prozess, kein Zustand.

In „Der Knacks“ spricht Willemsen davon, dass wir in einer Zeit leben, in der alles verfügbar scheint – und doch viele das Gefühl haben, nichts wirklich zu erleben. Das Paradox? Je mehr wir zu wissen glauben, desto weniger staunen wir. Doch Staunen, das ist der erste Schritt der Neugierde. Es ist das Eingeständnis, dass die Welt größer ist als unser Verstand.

Neugierde als politische und persönliche Pflicht

Willemsen, der sich zeitlebens gegen Gleichgültigkeit stemmte, sah in der Neugierde auch eine demokratische Tugend. Eine Gesellschaft, die aufhört zu fragen, wird leicht manipulierbar. Eine Person, die aufhört zu staunen, wird zynisch. Neugierde ist daher kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit – für den Einzelnen wie für das Gemeinwesen.

Vielleicht ist das die tiefste Einsicht: Neugierde hält uns wach. Sie verhindert, dass wir uns in unseren Überzeugungen einmauern. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht nur Konsumenten, sondern Suchende sind. Und manchmal, in den besten Momenten, findet sie uns – wenn wir am wenigsten damit rechnen.


„Die Welt ist voller magischer Dinge, die geduldig darauf warten, dass wir scharfsinniger werden.“
*(Edward P. Mitchell

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