New Model Army

Thunder and Consolation habe ich Anfang der 90er entdeckt. Das Album erschien 1989, aber die Dinge habe eben damals länger gebraucht. Auf den Partys lief immer auch Vagabonds oder Stupid Questions.New Model waren anders, nicht so larger than life wie andere Acts zu dieser Zeit. Da war Schmutz in der Musik, Arbeiterklasse, nie die große Produktion, keinerlei Sozialromantik oder Verklärung. Also bin ich am nächsten Tag zu Blitz Records und habe das Album gesucht. Habe mich nie wirklich mit anderen Alben der Bands auseinander gesetzt, warum weiß ich nicht, das ist aber die Platte geworden, die mich stark mit beeinflusst haben. Da gab es mehr jenseits des Mainstreams. Spannend.

Es gibt Alben, die einen nicht nur begleiten, sondern mit der Zeit den inneren Kompass justieren. Thunder and Consolation von New Model Army ist für mich eines dieser Alben. Es klingt wie eine Chronik gelebter Widersprüche: laut und verletzlich, wütend und zärtlich, politisch und zutiefst persönlich. Wenn ich es heute wieder höre, spüre ich nicht nur Nostalgie, sondern eine Art soziologischen Seismographen, der noch immer zittert.

Musikalisch verschränkt das Album Post-Punk-Energie mit folkigen Texturen: die Geige, die sich durch Stücke wie Vagabonds zieht, schneidet Schneisen in einen Sound, der zugleich erdig und hymnisch ist. Diese Spannung wirkt wie eine Metapher für das Leben am Ende der 1980er Jahre: zwischen Fabrikschornsteinen und offenen Landschaften, zwischen Thatcherismus und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. In Green and Grey ringen Stadt und Land miteinander, nicht als Kulissen, sondern als Lebensentwürfe. Das Lied fragt, aus welcher Landschaft unsere Loyalitäten gewoben sind – und warum jeder Ortswechsel auch ein Identitätsrisiko birgt.

Aus gesellschaftlicher Perspektive lässt sich das Album als Gegenentwurf zu einer neoliberalen Rationalität lesen, die den Einzelnen auf Selbstoptimierung und Konkurrenz trimmt. New Model Army erzählen von Bindungen, die nicht in Bilanzen passen: Freundschaft, Nachbarschaft, die fragile Solidarität einer Szene. Hier lohnt sich ein Blick zu Émile Durkheim: In den Refrains, die live zu kollektiven Beschwörungen werden, entsteht jene “kollektive Erregung”, die Gemeinschaft nicht nur behauptet, sondern performativ herstellt. Wer einmal mitgeschrien hat, weiß, dass diese Lieder Räume öffnen, in denen Fremde kurz zu Verbündeten werden.

Gleichzeitig zeigt das Album, wie ambivalent solche Gemeinschaft sein kann. Stupid Questions betrachtet mit ironischer Distanz die Erwartung, man müsse sich eindeutig positionieren – als wäre Identität ein Formular. Damit berührt das Album Bourdieu’schen Boden: Geschmack als sozialer Marker, Szenezugehörigkeit als Symbolkapital. Doch statt sich im Distinktionsspiel zu verlieren, kippt Thunder and Consolation immer wieder ins Universelle: I Love the World ist keine naive Liebeserklärung, sondern eine trotzig-zerbrechliche, die den Weltschmerz nicht negiert, sondern ihn in Zuneigung verwandelt. Trost ohne Verdunkelung – das ist selten.

Ich höre diese Songs heute anders als damals. Früher war da vor allem der Donner: die Gitarre als Rammbock gegen das Gefühl, ohnmächtig zu sein. Heute höre ich stärker die Konsolidierung: die beharrliche Suche nach Sprache für das, was zwischen uns liegt. Vielleicht, weil die Gegenwart erneut von polarisierenden Erzählungen durchzogen ist und Aufmerksamkeit zur knappsten Ressource wurde. In einer Aufmerksamkeitsökonomie, die Empörung belohnt, wirkt die poetische Ernsthaftigkeit von New Model Army wie ein stiller Widerstand. Das Album praktiziert, was man “slow affect” nennen könnte: Gefühle nicht ausstellen, sondern aushalten; nicht skandieren, sondern tragen.

Raymond Williams sprach vom “structure of feeling” einer Epoche – jene schwer fassbaren, geteilten Stimmungen, die sich erst rückblickend konturieren. Thunder and Consolation ist für mich eine solche Struktur in Klang: die Melancholie einer Klasse im Umbau, der Stolz derjenigen, die sich von keiner Statistik vollständig erfassen lassen, und die Wut über einen Staat, der Gemeinschaft oft nur als Kostenfaktor erkennt. Doch in all dem bleibt ein Rest Hoffnung. Keine große Erzählung, eher ein leises, hartnäckiges “Wir sind noch da”.

Vielleicht ist das der tiefste Trost dieses Albums: Es verwechselt Lautstärke nicht mit Wahrheit, und Zärtlichkeit nicht mit Schwäche. Es gibt uns Worte und Melodien, um das zu teilen, was sonst stumm bleibt. Und wenn draußen wieder Donner grollt, erinnert es mich daran, dass Trost kein Rückzug ist, sondern eine Form von Widerstand – gemeinsam, widersprüchlich, lebendig.

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