Jede und jeder von uns ist in einen biografischen Kontext hineingeboren. Wir bekommen Eltern zugeteilt – durch das bloße Faktum unserer Geburt, ohne dabei mitbestimmen zu können, wer diese Menschen sind. Im Rückblick, viele Jahre später, stellt sich eine zentrale Frage: Was schulden wir eigentlich unseren Eltern?
Diese Frage ist tiefgründig, komplex und emotional aufgeladen. Sie berührt elementare Aspekte von Moral, Gerechtigkeit und Identität – und ihre Antwort variiert erheblich, je nachdem, aus welchem wissenschaftlichen und philosophischen Blickwinkel man sie betrachtet.
Ich habe eine eigene Geschichte, aber auch eine mit meinen Kindern. Unvollendete Erzählungen. Und sie werden es bleiben bis es zu spät ist. Die eigene befindet sich immer wieder in Neubewertung. Ich möchte verstehen, immer wieder, nicht nur aus der Sicht eines 20- oder 30-jährigen was diese spezielle Beziehung ausmacht. Immer wieder spielt auch das Jetzt eine Rolle, mein eigenes Narrativ. Eines, das sich fortwährend weiter erzählt, die Blickwinkel verändert, ja verändern muss. Genauso wie die Beziehung zu den eigenen Kindern. Eine disruptive Geschichte in meinem Fall. Eine Scheidung, die zu Loyalitätskonflikt und Trennung geführt hat. Jetzt frage ich ich hier: Was bedeuten über ein Jahrzehnt gemeinsames Leben und Wirken? Schulden mir meine Kinder etwas oder ich ihnen? Wie kann man das überhaupt einordnen? Natürlich ist es viel vielschichtiger als diese Fragen. Beginnen wir mit den offensichtlichen Grundlagen.
Die biologische und psychologische Perspektive
Die evolutionäre Psychologie hebt hervor, dass elterliches Verhalten maßgeblich das Überleben der Nachkommen sichert. Der Anthropologe Sarah Hrdy spricht vom „parental investment“: Eltern investieren Energie, Zeit und Ressourcen in ihre Kinder, was deren erfolgreiche Entwicklung erst ermöglicht. Aus evolutionsbiologischer Sicht mag es daher naheliegen, dass eine Art „Reziprozität“ in der Eltern-Kind-Beziehung angelegt ist: Wer viel erhält, gibt irgendwann auch zurück.
Auch in der Entwicklungspsychologie, insbesondere im Kontext der Bindungstheorie von John Bowlby, ist nachgewiesen, dass das Fürsorgeverhalten der Eltern und die sichere Bindung dem Kind ermöglichen, später stabile Beziehungen und Empathiefähigkeit zu entwickeln. Die emotionale Basis einer positiven Eltern-Kind-Beziehung kann also in reiferen Jahren zur Motivation werden, sich um die alternden Eltern zu kümmern.
Doch die Wissenschaft beobachtet auch, dass Beziehungen dysfunktional oder gar toxisch verlaufen können. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach einer moralischen „Schuld“ ganz anders. Bindung und Fürsorge beruhen, auch aus psychologischer Sicht, nicht ausschließlich auf biologischer Verpflichtung.
Philosophische Betrachtungen: Pflicht oder Dankbarkeit?
Die Philosophie hat die Frage nach der Schuld gegenüber den Eltern vielfach verhandelt. Konfuzius spricht im Buch der Gespräche von Xiao (孝), der kindlichen Pietät, als Grundpfeiler der ethischen Ordnung. Kindern wird darin eine bedingungslose Pflicht zur Dankbarkeit und Fürsorge gegenüber den Eltern abverlangt. Dieses Denken hat den Konfuzianismus bis in die moderne chinesische Gesellschaft geprägt.
Im europäischen Denken ist der Philosoph Immanuel Kant eine zentrale Bezugsperson. In der „Metaphysik der Sitten“ erläutert Kant, dass Kinder gegenüber ihren Eltern „Pflichten der Dankbarkeit“ haben, weil die Eltern ihnen das Leben geschenkt und sie erzogen haben. Allerdings warnt er davor, diese Pflicht als absolute Unterordnung zu missverstehen: Es entsteht kein Besitzrecht der Eltern an den Kindern, sondern ein ethischer Appell zur Anerkennung und zum Respekt.
Der Gegenentwurf findet sich bei Simone de Beauvoir in Das Alter: Sie bemängelt, dass moralische Ansprüche an Kinder oft romantisierend verklärt werden und den komplexen Realitäten von Autonomie und Abhängigkeit im Erwachsenenleben nicht gerecht werden. Für de Beauvoir sind Beziehungen zu den Eltern ambivalent – Liebe, Schuld und Pflicht mischen sich und müssen immer wieder neu verhandelt werden.
Der zeitgenössische Philosoph Bernard Williams betont, dass moralische Verpflichtungen nicht aus reinen biologischen Beziehungen entstehen, sondern aus konkreten Erfahrungen und Handlungen. Wenn Eltern Liebe, Fürsorge und Unterstützung geben, dann entsteht daraus eine zwischenmenschliche Verpflichtung – aber keine unbedingte moralische Schuld, unabhängig von der gelebten Beziehung.
Ein persönlicher Blick: Zwischen Dankbarkeit und Autonomie
Was bleibt unter dem Strich? Ich erlebe, dass meine eigenen Gedanken zu dieser Frage im Fluss sind. Es gibt Momente großer Dankbarkeit – für frühe Geborgenheit, Fürsorge, Chancen. Aber auch Augenblicke, in denen ich konfrontiere, was gefehlt oder verletzt wurde. In beidem steckt eine Wahrheit: Dankbarkeit ist wichtig, aber sie darf nicht erzwungen werden. Unsere Autonomie – das Recht, auch unsere eigenen Wege zu gehen, uns abzugrenzen – ist ebenso schützenswert.
Vielleicht schulden wir unseren Eltern nicht unbedingte Loyalität oder Selbstaufgabe, sondern ehrliche Anerkennung dessen, was uns geschenkt, und auch dessen, was uns schmerzlich gefehlt hat. Es ist die Verantwortung gegenüber uns selbst und unseren Eltern, diese Ambiguität auszuhalten.
Wie der Philosoph Martin Buber meint: „Alles echte Leben ist Begegnung.“ Die Beziehung zu unseren Eltern bleibt immer ein lebendiger Prozess – getragen von Dankbarkeit, manchmal auch von kritischer Distanz. Die größte Schuld aber, die wir begleichen können, ist womöglich, diese Beziehung mit Achtsamkeit, Aufrichtigkeit und Menschlichkeit zu gestalten. Ich wünsche mir das auch für die Beziehung zu meinen eigenen Kindern. Vielleicht irgendwann.
Quellen:
- Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten
- Simone de Beauvoir: Das Alter
- Bernard Williams: Ethics and the Limits of Philosophy
- John Bowlby: Bindung
- Sarah Hrdy: Mutter Natur
Meine Kinder schulden mir nichts, außer die ab und an gewährte finanzielle Spritze, die ich zu gegebener Zeit zurückfordere.
Wie du schon sagst suchen Kinder sich ihre Eltern nicht aus, umgekehrt ist es genauso. Man kann viel Energie und Liebe in den Nachwuchs “investieren”, in der Hoffnung, selbiges zu einem späteren Zeitpunkt zu empfangen.
Was aber wenn das Leben in der Zwischenzeit die Bindung auf die Probe stellt?
Zwar kann man gerne viel vom Nachwuchs erwarten, weil wir selbst mit dieser Erwartungshaltung erzogen wurden oder glauben etwas Anerkennung verdient zu haben. Was wir am Ende aber tatsächlich bekommen steht auf einem anderen Blatt.
Eine Scheidung macht die Sache natürlich wesentlich komplizierter, aber auch das wird irgendwann vergessen. Wenn die Kinder den Kontakt wünschen suchen sie ihn zu gegebener Zeit von ganz alleine.
Meiner Meinung nach können wir das zarte Pflänzchen nur gießen und auf schöne Blüten hoffen. Ob es tatsächlich mal blüht oder jämmerlich eingeht haben wir meist nicht in der Hand.
Wir setzen uns also wie ein Katholik in die Kirche und hoffen 🙂 Du hast völlig Recht, feste Erwartungen zu haben, ist der Weg in die Enttäuschung, so verstehe ich dich jedenfalls ein wenig. Trotzdem ist es das Thema wert, darüber nachzudenken und diese Beziehungen immer wieder neu auszuhandeln. Wir haben eben doch eine besondere Beziehung, ob wir wollen oder nicht.
Da gebe ich dir absolut recht, und du hast es auch schön beschrieben. Mit meiner pubertierenden Tochter handele ich diese “Beziehung” im Viertelstunden-Takt aus, je nachdem in welche Schieflage das Hormongefälle gerät. =)
Deine Anspielung auf die Kirche und das Hoffen ist in Sachen Kinder/Erziehung gar nicht mal so abwegig, finde ich. Dir geht es doch sicherlich nicht anders, man hofft sehr viel. Man bangt manchmal, hoffentlich geht alles gut. Man glaubt: Wenn ich nur alles richtig mache (was mit dem Aufziehen von Kindern im Grunde gar nicht vereinbar ist), dann wird am Ende ein Schuh draus. Dann folgt darauf automatisch der Erfolg, den man sich selbst versprochen hat. Weil sie es ja besser haben sollen. Da tun sich manchmal Gräben auf.
Aber ich rede und rede und sicherlich wie immer am Thema vorbei und über alle Grenzen hinaus. =)
Unsere Kinder schulden uns nichts. Wir, die sie so egoistisch in diese grausige und von Widersprüchen geprägte Welt gesetzt haben, sind es ihnen zumindest schuldig den Start so angenehm wie möglich zu machen. Und wenn es letztlich tatsächlich ganz platt nur dem Arterhalt dient.
Eine kleine Anmerkung zum Parental Investment: hier geht es tatsächlich um Investitionen in die Weitergabe seiner eigenen Gene über möglicht viele Generationen. Diesbezüglich schulden Nachkommen (rein biologisch) ihren Eltern überhaupt nichts. Die Gene werden jeweils nur nach unten weitergegeben und nicht nach oben.
Und noch eine zweite Anmerkung: Vater und Mutter zu Ehren eines der zehn Gebote. Das ist in christlichen Kulturen sicher relevanter als Konfuzius.
Liebe Grüsse!
Danke für den Blickwinkeln. Unseren christlichen Hintergrund habe ich etwas außen vor gelassen. Ich fühle mich dem einfach nicht Nahe genug. Für meine Mutter ist es allerdings sehr wohl ein Thema.