Meritokratie

Als Menschen sind wir sehr affin für den Mythos der Meritokratie, der “Herrschaft der Verdienstvollen”. Wir suchen unterbewusst nach einer Berechtigung für das was wir für unsere persönliche Identität halten. Wenn wir diese Berechtigung nicht spüren würden, könnten wir diese Welt nicht ertragen. Wir bauen ein Narrativ um unterbewusst zu rechtfertigen, dass die Menschen dort in der Gesellschaft Platz finden wo sie eben sind. Gibt es eine objektive Ungerechtigkeit mit der wir als Mensch und Gesellschaft klar kommen müssen, weil wir es gerade nicht ändern können, legitimieren wir diese, suchen nach Konsistenz in Systemen die nicht konsistent sind, vielleicht auch gar nicht seien können. Es ist ein Versuch kognitive Dissonanzen zu reduzieren. Wir würden in nihilistische Hoffnungslosigkeit fallen, würden wir kognitive Resonanz nur auf das beschränken was außerhalb unseres Verständnisses liegt. Ein Extrembeispiel ist sicherlich rechtsextremistisches Gedankengut. Ein Narrativ, welches glaubend machen möchte, dass eine Überlegenheit Naturgegeben ist, das der Ursprung der eigenen Probleme im fremden Unbekannten liegen muss. Der andere Teil der Gesellschaft hat in diesem Sinne kein Recht Raum einzunehmen, keine Legitimation. Ein Minderheiten basiertes meritokratisches Weltbild, eine Fehlinterpretation der eigenen Position.

Der Soziologie-Pionier Max Weber hat dazu folgendes gesagt:

“Daß ein Mensch im Glück dem minder Glücklichen gegenüber sich nicht mit der Tatsache jenes Glücks begnügt, sondern überdies auch noch das „Recht“ seines Glücks haben will, das Bewußtsein also, es im Gegensatz zu dem minder Glücklichen „verdient“ zu haben – während dieser sein Unglück irgendwie „verdient“ haben muß -, dieses seelische Komfortbedürfnis nach der Legitimität des Glückes lehrt jede Alltagserfahrung kennen, mag es sich um politische Schicksale, um Unterschiede der ökonomischen Lage, der körperlichen Gesundheit, um Glück in der erotischen Konkurrenz oder um was immer handeln.” (Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn, oJ, p. 466)

Das heißt, wenn ein Mensch in einem Land lebt, welches weitgehend prosperierend und befriedet ist, und er gleichzeitig sieht, wie andere Menschen in anderen Ländern in schwierigeren Verhältnissen zurecht kommen müssen, dann tendiert er dazu, die Misere nicht dem Zufall zuzuordnen, sondern die eigene Situation zu legitimieren. Es ist die natürliche Ordnung der Dinge, wir haben das Recht auf die eigenen Lebensumstände, die Anderen nicht. Der Andere darf nicht das gleiche Recht haben, dann wäre das eigene Weltbild nicht tragbar. Wir brauchen die Kontrolle über unser Sein, müssen Selbstwirksamkeit spüren. Wenn wir etwas positives erleben, schreiben wir uns dies gerne selbst zu, auch wenn wir nichts dafür konnten zum Beispiel Kinder reicher Eltern zu sein. Wir sind die Verdienstvollen. Wir haben diese Position nur auf Basis unseres eigenen Tuns erreicht. Wir sind im Modus einer Kontrollüberzeugung. Daraus folgend, quasi als Attributionsfehler, muss es die Ansicht geben, dass Menschen denen etwas negatives Anheim gefallen ist, dies auch verdient haben. Ohne die beiden Pole keine rechtfertigende kognitive Resonanz.

Weil wir zu diesen Erzählungen tendieren, sind wir empfänglich für Geschichten vom sozialen Aufstieg, vom Tellerwäscher zum Millionär. Auch für andere kognitive Dissonanzen, für mich persönlich in den letzten Jahren häufig personifiziert zum Beispiel in der Wahrnehmungen und Überzeugungen der FDP. Ihre “Technologie-Offenheit” ist ein Vehikel für das systematische ausblenden von Wahrnehmungen anderer Sichtweisen. Ein in Pseudo-Vernunft verpacktes einseitiges Weltbild. Die Überzeugung mit Technik die es noch nicht gibt, der Klimakrise Herr werden zu können, ist ein Musterbeispiel für eine kognitive Dissonanz in der Meritokratie. Davon gibt es noch etliche andere Beispiele.

Was also dagegen tun? Ich kann nur bei mir selbst anfangen. Mein Weltbild kann kein schwarz/weiß sein, ich muss wissen, dass die Dinge im Detail immer komplexer sind als sie vielleicht scheinen. Ich kann nicht zu jedem Thema eine Meinung haben, jedenfalls nicht bevor ich mich informiert habe. Jedes Thema ist mehr als Oberfläche. Ich muss aushalten, dass im großen Zusammenhang wichtige Probleme unwichtigen vorgezogen werden in der öffentlichen Wahrnehmung. Gibt es seit 2022 mehr Flüchtlinge durch den Ukraine-Krieg? Ja. Ist es so wie 2015? Nein, die Zahlen sind viel kleiner. Gibt es Probleme in der Integration? Ja, aber darum kümmern sich Menschen und versuchen Lösungen zu finden. Gibt es größere Probleme? Ja!! Soziale Ungerechtigkeiten, Reichtum und Armut, und die Mutter aller Probleme, die Klimakrise. Wir müssen als Gesellschaft Verantwortung übernehmen, Habseligkeiten teilen, wir alle zusammen sind die “Verdienstvollen”.

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