Katechon

Wovon reden die da? Glaube kann Politik zügeln oder entgrenzen. In den USA scheint es gerade besonders offensichtlich zu sein, der Fundamentalismus gewinnt stark an Fahrt, Menschen wie JD Vance oder Peter Thiel gewinnen stark an Einfluss. Der Podcast über Thiel erwähnt für mich das erste Mal den Begriff Katechon als Grundlage für den kulturellen Rechtsruck in der amerikanischen Politik. Auch in Russland bringt der Katechon über Alexander Dugin seine Einflussphäre in die Entscheidungen des Putin-Regimes. Ich möchte dem auf den Grund gehen.

Es gibt Begriffe, die wie geologische Verwerfungen im Denken wirken. Der Katechon gehört dazu: jene „zurückhaltende“ Kraft, von der der 2. Thessalonicherbrief sagt, sie halte das „Geheimnis der Gesetzlosigkeit“ noch auf, bis ihre Zeit vorbei ist. In der Moderne hat vor allem Carl Schmitt den Katechon politisch aufgeladen: als Figur, die Ordnung inmitten eschatologischer Unruhe stiftet – ambivalent, weil sie das Böse aufschiebt und zugleich das Heil verzögert. In seinen Notizen nennt Schmitt den Glauben an den Katechon „die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen“. Damit machte er aus einem theologischen Motiv eine politische Grammatik von Ordnung, Ausnahme und Souveränität.

Diese Grammatik taucht heute in unterschiedlichen Milieus wieder auf. Besonders deutlich bei Alexander Dugin, dessen „Vierte Politische Theorie“ eine anti-liberale, traditionalistische Gegenmoderne entwirft. Dugin knüpft an die orthodoxe Erzählung vom „Dritten Rom“ an und identifiziert Russland als Katechon – als „Aufhalter“ gegen den „antichristlichen“ Westen, Globalisierung und Liberalismus. Damit verschmilzt er religiöse Eschatologie mit geopolitischer Mission: Imperium als Heilsökonomie. Das ist nicht bloß Rhetorik; es strukturiert außenpolitische Rechtfertigungen und mobilisiert eine kollektive Identität, die sich aus einem metaphysischen Dualismus speist (heilig/profan, Ordnung/Chaos). Wissenschaftliche Analysen des postsowjetischen Messianismus beschreiben genau diese katechontische Selbstdeutung und ihren Einfluss auf politische Entscheidungen.

Der Begriff „Dualismus“ ist hier mehr als Metaphysik. Er wirkt wie eine kognitive Abkürzung: Komplexität wird moralisch aufgeladen, Ambivalenzen werden zur Freund–Feind-Differenz verdichtet. Schmitt hat diese Verdichtung theoretisch zugespitzt; Dugin politisiert sie für eine multipolare, doch hierarchisch gedachte Weltordnung, in der Zivilisationen als organische Ganzheiten auftreten und universale Rechte als westlicher „Rassismus“ erscheinen. Das Versprechen: Schutz der „eigenen“ Form des Lebens – notfalls durch Imperium und Krieg. Die Gefahr: Totalisierung von Politik, Entgrenzung von Gewalt, Immunisierung gegen Kritik, weil die eigene Mission sakral aufgeladen ist.

Ganz anders, und doch strukturell verwandt, ist der Libertarianismus in seiner techno-unternehmerischen Variante, prominent bei Peter Thiel. Thiel hat 2009 programmatisch formuliert: „Most importantly, I no longer believe that freedom and democracy are compatible.“ Sein Ausweg ist nicht die katechontische Bewahrung eines Reiches, sondern der „Exit“: neue Räume, in denen Freiheit vor Politik fliehen kann – Cyberspace, Seasteading, Monopolgründungen als Schutzräume gegen den „Demos“. Zugleich bekennt sich Thiel offen zu einem christlich geprägten Denken, das er über René Girards mimetische Theorie deutet: Konflikte entstehen aus nachahmungsgetriebenen Begierden; Techniken der Lenkung – Plattformen, Narrative – können Rivalität kanalisieren. Damit verschiebt sich die religiöse Semantik: Der Glaube liefert nicht die Staatsmythologie, sondern die Anthropologie, mit der digitale Ordnungen legitimiert werden.

Beide Denkmuster – das duginistische und das thielsche – berufen sich auf religiöse Ressourcen, um Politik zu rechtfertigen. Beide sind dualistisch: dort Zivilisation gegen Antichrist, hier Freiheit gegen Masse/Regelstaat. Und beide bergen totalitäre Risiken, wenn sie als letzte Begründung auftreten. Beim Schmitt/Dugin-Strang liegt die Gefahr im Ausnahmezustand als Normalform: Souveränität wird sakral überhöht, Opposition wird kosmologisch delegitimiert. Beim Thiel-Strang liegt sie in der Entdemokratisierung durch „Exit“: politische Gestaltung wird in private, monopolartige oder extraterritoriale Räume verlagert; die Ordnungskraft liegt dann nicht mehr in Verfahren, sondern in der Verfügungsmacht weniger – mit einer Theologie des Menschenbildes (Girard) als Deutungshorizont. In beiden Fällen wird der gesellschaftliche Pluralismus nicht als Produkt zäher, fehlerfreundlicher Institutionen gedacht, sondern als Problem, das man entweder restriktiv „aufhält“ oder technisch umgeht.

Was bedeutet das für uns – jenseits der großen Theorien? Drei Beobachtungen:

  • Erstens: Katechontisches Denken beruhigt, weil es Ordnung verspricht. Es vereinfacht, indem es Geschichte als moralisches Drama deutet. Aber es verführt dazu, Gegner nicht mehr als Mitbürger zu sehen, sondern als „Zeichen der Endzeit“. Das ist politisch destabilisierend – gerade weil es sich als Rettung ausgibt.
  • Zweitens: Libertäre „Exit“-Visionen erzeugen eine stille Entpolitisierung. Wenn die Besten „aussteigen“, bleiben die Komplexitäten der gemeinsamen Welt ungelöst. Freiheitsräume ohne demokratische Rechenschaftspflicht können zu privaten Souveränitäten werden. Thiels eigenes Programm formuliert diesen Zielkonflikt offen.
  • Drittens: Glaubensmotive in der Politik sind nicht per se problematisch. Problematisch werden sie, wenn sie als letzte Instanz auftreten – als immunisierte Begründung für Imperien (Dugin) oder für die Aushöhlung demokratischer Verfahren (Thiel). Philosophie kann hier nüchtern machen: Schmitts Katechon ist ein machtpolitisches Deutungsangebot, kein Dogma; Girards Anthropologie erklärt Konflikte, rechtfertigt aber keine oligarchische Ordnung.

Vielleicht ist der besonnenste Umgang mit dem Katechon, ihn zu entmythologisieren: nicht als sakrale Lizenz zum Durchregieren zu lesen, sondern als Mahnung, dass Ordnung in Krisenzeiten umso mehr Verfahren, Gegenstimmen und geteilte Aufmerksamkeit braucht. Gerade in der Aufmerksamkeitsökonomie – in der Empörung und Erlösungsversprechen am meisten Klicks erzeugen – ist dies eine asketische Übung. Der Glaube kann sie stützen: nicht als Waffe, sondern als Praxis der Selbstbegrenzung. Das wäre die eigentliche „Aufhalter“-Kunst in einer freien, demokratischen Gesellschaft wenn man denn den Glauben integrieren möchte.

Quellenhinweise (Auswahl):

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